Chronische Schmerzen und autonomes Nervensystem
Leider können viele Menschen von einem derart angenehmen Körpergefühl nur träumen. Aber warum ist das so? Das Bindegewebe ist verspannt und steif. Das emotionale Wohlbefinden wird durch ein Stimmungstief ersetzt und die Geschmeidigkeit im Rücken verwandelt sich in quälende Kreuzschmerzen.
Faszien können sich bei Stress selbstständig zusammenziehen
Neben der mechanischen Gleit- und Fließeigenschaften, hat das Fasziengewebe noch eine besondere Qualität. In der Fachsprache spricht man von Faszien als sensorisches Sinnesorgan.
Faszien können fühlen
Wenn es Stress fühlt, kann es sich selbstständig zusammenziehen, um den Körper hart und unempfindlich zu machen. Es braucht dazu nicht einmal die Erlaubnis vom Gehirn. Es hat seine eigenen Antennen und das Gehirn verlässt sich auf seine Außenposten.
Was kann eine Stressreaktion der Faszien auslösen?
- Zeitdruck.
- Unsichere zwischenmenschliche Beziehungen.
- Negative Emotionen und Gedanken.
- Erschreckende Bilder und Nachrichten aus Fernsehen und sozialen Medien.
- Unangenehme, laute Geräusche.
- Verletzte, instabile Gelenke.
- Schnelle Bewegungen oder Drehbewegungen.
- Wenn Belastung zu lange, zu viel, oder über längere Zeit, wiederkehren ist
Das Zusammenziehen der Faszien geschieht ganz ohne Muskelbeteiligung und ohne, dass wir bewusst etwas davon mitbekommen.
Über die Zeit bildet sich aus diesen Kontraktionen eine starre, harte Hülle um den Muskel, die auf Druck unnachgiebig ist. Über die Faszienspannung wird eine dauerhafte sympathikotone-Aktivierung eingeleitet, welche folgende Auswirkung hat:
- Beschleunigung der Atmung und des Herzschlages
- Sauerstoffunterversorgung des Gewebes
- Das Fasziengewebe verfilzt und wird steif.
- Wir fühlen uns, als wäre die Haut zu eng geworden.
Bleiben diese Kontraktion über längere Zeit bestehen, ohne dass eine Regulation in den Sicherheitsmodus geschieht, veranlasst das Nervensystem eine Notbremsung um es vor einer Überlastung zu schützen. Die Energie wird gedrosselt.
Dieses Abbremsen macht sich auf Dauer bemerkbar durch:
- chronische Erschöpfungszustände
- Muskelschwäche
- Verdauungsproblem
- schwaches Immunsystem
- massive Hals-Nacken-Verspannungen
- eingesunkene Körperhaltung
- verminderte Konzentrationsfähigkeit
- depressive Verstimmungen
- steifes, unelastisches Fasziengewebe
Die Faszienforschung fand bei Menschen mit Depressionen eine höhere Steifigkeit in der Brust- und Halswirbelsäule und eine geringere Elastizität im Bindegewebe vor, als bei der Kontrollgruppe.
Lernen wie entspannen geht!
Aussagen wie, „sie müssen sich mal entspannen“, helfen leider wenig. Besser wäre es, den Klienten zu zeigen, wie sie lernen können, ihr Nervensystem zu regulieren, um die Spannung im Bindegewebe zu lösen und einen ventral-vagalen Zustand von Sicherheit einzuladen.
- Schulung einer achtsamen Körperwahrnehmung
Über die Schulung einer achtsamen Körperwahrnehmung kann ein Zugang zu den Sinneszellen der Faszien hergestellt werden. Den eigenen Körper zu spüren aktiviert das Sicherheitssystem. Dies bedarf etwas Übung und ist zunächst für viele Menschen, ungewohnt und neu.
Je mehr Stress im Körper ist, umso weniger Zugang hat man zu dieser Wahrnehmungsebene. Die gute Nachricht ist, das man Körperwahrnehmung wie einen Muskel Trainieren kann. Irgendwann denkst du gar nicht mehr darüber nach wie das gehen soll. Es wird so selbstverständlich sein wie Zähneputzen.
- Stärkung des Sicherheitsgefühls, durch propriozeptive Stabilisation
Die propriozeptive Wahrnehmung kann durch Erfragen der Lage der Körperteile im Raum gestärkt werden:
Befindet sich dein Kopf vor oder hinter den Schultern?
Aber auch durch Gelenkstabilisation, Gleichgewichtsübungen oder Haltungsschulung, kann ein neues Sicherheitsgefühl im Kleinhirn und im sensomotorischen Kortex entstehen. Bewegung und Haltung wird als sicher eingestuft. Das Nervensystem wird dadurch entlastet und kann seine Schutzfunktionen herunterfahren.
- Stimulation der Interozeption
Die interozeptive Wahrnehmung fragt nach dem, wie sich etwas gerade in uns anfühlt. Zugegebenermaßen klingt das für außenstehende Ohren etwas befremdlich, wenn jemand sagt, seine Beine fühlen sich hölzern, dumpf, bleischwer oder taub an. Diese Aussagen sind aber für oft ein Anzeichen dafür, dass die Faszien spröde, trocken und verfilzt sind und nicht mehr Kommunizieren.
Je elastischer und durchlässiger die Faszien sind, umso besser fühlen wir uns in unserer Haut; Empfindungen wie weich, warm, lebendig sind Aussagen aus einer intakten interozeptiven Wahrnehmung.
Laut Faszienforschung kann die Arbeit mit dem interozeptiven Körpergefühl ein Schlüssel für dauerhaften Behandlungserfolg bei PTBS und psychoemotionalen Erkrankungen sein.
- Interozeptie Übung: Aufwecken der Faszien
Nehme dir einen Moment Zeit um deinen Körper zu spüren, wie er gerade ist. Wir fühlt sich dein Muskel- und Bindegewebe in den Schultern und Nacken an. Wie gut lässt sich dein Kopf drehen?
Faszien lieben Vibrationen und sanftes klopfen. Deswegen beginne deinen Körper ganz sanft mit den Fingerspitzen abzuklopfen. Das kannst du im Stehen oder im Sitzen tun. Beginne bei der Kopfhaut, wandere übers Gesicht, Hals, Brustkorb Arme, Bauch, untere Rücken, Po, Beine. Klopfe nicht einfach ohne Sinn, sondern spüre wie sich das Klopfen deiner Finger an der Kopfhaut anfühlt. Welche Empfindungen löst es aus. Angenehme? Interessante? Versuche zu erspüren, wo es besonders angenehm ist, und klopfen dort ein bisschen länger, bis du zur nächsten Stelle wanderst. Wenn du auf diese Weise deinen Körper von Kopf bis Fuß beklopft hast, nimm dir einen Moment Zeit, um wahrzunehmen, wie sich das Bindegewebe unter deiner Haut jetzt anfühlt. Vielleicht fühlst du ein pulsieren, oder ein Strömen, oder fühlst dich wacher. Herzlichen Glückwunsch, du hast deine Faszien aufgeweckt.
- Sympathikusdämpfung durch Training der Augen-Hand-Koordination
Durch digitale Reiz- und Informationsüberflutung werden im Gehirn Stressreaktionen mobilisiert. Über sensomotorisches Training, vorwiegend der Hand-Augen-Koordination, können Verarbeitungsprozesse im sensorischen Kurzzeitspeicher angeregt werden, welche den ventralen-Vagusast stimulieren und sich beruhigend auf den Sympathikus auswirken.
Ein aktives Kleinhirn hilft übrigens bei der kreativen Problemlösung. Es lässt sich durch einfache sensomotorische Übungen wie, Ballwerfen und Fangen, Koordinations-, Rhythmus- und Überkreuzbewegungen aktivieren.
Wenn dein Kopf voll ist und du dich im Nacken verspannt fühlen, oder eine Gedankenpause einlegen möchtest, versuche diese Übung: Nimm einen kleinen Ball oder einen wurfsicheren Gegenstand in die rechte Hand. Werfe ihn hoch und fangen ihn mit der gleichen Hand wieder auf. 5-10 mal. Verfolge den Ball dabei ganz genau mit deinen Augen. Widerhole den Vorgang auf der anderen Seite.
Erst wenn das gut klappt werfe den Ball von der rechten Hand in die linke 5-10 mal. Verfolge auch hier wieder den Ball mit deinen Augen. Das Ganz auch andersherum. Also von der linken in die rechte Hand. Mit dieser einfachen Übung, hilfst du deinem Gehirn dabei, angestaute Informationen zu verarbeitet und dem Kopf frei zu bekommen. Das entspannt deine Faszien und reguliert das Nervensystem.
- Vagus-Reset über Body-To Brain-Übungen
Über Miniinterventionen kann ein ventral-vagaler Zustand im Nervensystem erreicht werden. Damit diese Übungen in Akutsituationen ihre Wirkung entfalten können, ist es wichtig, sie in einem entspannten Zustand zu trainieren.
- Übung: Seufzende Ausatmung
Seufzen ist ein natürlicher Abschluss, um von einer sympathikotonen Erregung zum Sicherheitsmodus zu wechseln. Oft geschieht dieser natürliche Reflex nicht von alleine und das Nervensystem bleibt in Aufruhr, obwohl sich die Situation längst geklärt hat. Seufzen drückt im Gehirn den Schalter für Sicherheit und Entspannung.
So geht´s.
Atme zweimal kurz hintereinander ein und einmal aus. Wiederhole diese Miniseufzer ruhig 2-5 Mal. Diese Art zu Atmen regt den Körper dazu an mehr zu seufzen;) Man kann diese Übung immer dann machen, wenn man bemerkt, dass man gerade dabei ist, sich über etwas aufzuregen. Dadurch wird eine sympathikotone Aktivierung unterbrochen.
Entspannung durch Neurofaszial Release.
Diese Techniken bezieht sich auf die Entspannung von Muskelgruppen, die als Schutzmuskeln von Hirnnerven innerviert werden. Viele Hirnnerven kommunizieren mit dem Vagusnerv. Durch sanftes neurofaszial Release der Trapezius-Faszie, können Therapeuten sozusagen direkt an der Schaltzentrale für Sicherheit und Kontakt arbeiten. Dies hat regulative Auswirkungen auf das gesamte autonome System.
Faszienarbeit ist lebendiges Hirntraining
Dank der Forschung wissen wir heute, dass Faszientherapie alles andere, als eine passive Therapieform ist. Über die Stimulation der verschiedenen Sinnessensoren und der daraus erwachenden Körperwahrnehmung, findet ein Feuerwerk im Gehirn statt.
Früher dachte ich, es ginge darum den Körper zu entspannen und mögliche Stressquellen zu vermeiden. Heute weiss ich, dass Stress nicht vermeidbar ist und zum Leben dazugehört.
Steigerung der körpereigenen Resilienz
Viel wichtiger ist es, dem Körper zu schulen, wie er eine höhere Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft bekommt. Dadurch werden wir Bewegungsintelligenter und finden neue Antworten auf die Anforderungen des Lebens.
Der Mut auch mal ein Risiko einzugehen steigt, weil wir wissen, dass sich der Körper nach einer Belastung oder sogar Negativerfahrung schnell erholt. Wir trauen uns die Dinge zu tun, die uns wirklich wichtig sind.
Take away:
1. Wir können über das Fasziengewebe das autonome Nervensystem regulieren und andersherum.
2. Wir können durch Schulung der Körperwahrnehmung die interozeptive Versorgung rund um das Insula-Areal stimulieren, und somit das emotionale Wohlbefinden positiv beeinflussen.
3. Durch sensomotorische Übungen und Body to-Brain Übungen können wir das Nervensystem und das Fasziensystem neu gestalten.
Verliere den Kopf und komme zu Sinnen
Der Schlüssel für körperliches und emotionales Wohlbefinden liegt, wie wir jetzt wissen, direkt unter unserer Haut. Suche nicht nach dem Glück, sondern nach den Sinnen. Dann werden dich deine Faszien jeden Tag daran erinnern, das Wohlbefinden nicht im außen entsteht, sondern immer in dir selbst.
Autorin: Larissa Grassmann November 2023
Veröffentlich in der Zeitschrift die Säule: Nov 23
Quellen: Faszien als sensorisches und emotionales Organ: Faszien als Sinnesorgan - ScienceDirect> Faszien als sensorisches und emotionales Organ: Emotionen, Faszien und Immunsystem - ScienceDirect< Der Selbstheilungsnerv< The singing athlet